(aus: faulheit und arbeit. Wochenendbeilage der jungen Welt vom 03.01.2004)
Politik
mit scharfer Zunge
Zehn Jahre nach dem Aufstand der EZLN haben die Neozapatisten
zwar nicht die Macht, dafür einen festen Platz in der Sozialwissenschaft von Harald Neuber Eine Mischung aus Erstaunen und Hohn bestimmte die internationalen
Reaktionen, als einige hundert Frauen und Männer der »Zapatistischen Armee
zur Nationalen Befreiung« (EZLN) am 1. Januar 1994 im mexikanischen
Bundesstaat Chiapas mehrere Städte besetzten. Die Welt schaute perplex auf dieses
Fleckchen Erde. Hatten diese vermummten Landarbeiter nichts mitbekommen?
Waren die Nachrichten von Zusammenbruch des Sowjetkommunismus nicht in die
Berge und Urwälder Mexikos vorgedrungen? Wußten sie nicht, daß, wie der US-Theoretiker
Francis Fukuyama fünf Jahre zuvor geschrieben hatte, das »Ende der
Geschichte« gekommen war? Darin liegt bis heute der enorme Verdienst der neozapatistischen
Bewegung: Sie wandte sich stur sowohl gegen die Siegermentalität der
Neoliberalen wie gegen den politischen Autismus der ehemals moskautreuen
Linken. Die EZLN-Guerilla war immerhin schon 1983 gegründet worden, aber
gerade in der damaligen Situation ging sie in die Offensive. »Die Rebellion«,
resümierte der Sprecher Subcomandante Marcos in seiner gewohnt polit-poetischen
Sprache, »ist wie dieser Schmetterling, der auf das Meer ohne Insel oder Felsen
zuhält.« Das Tier wisse, daß es keinen Platz zum Landen habe, doch zögere es
nicht zu fliegen. »Aber nein, weder der Schmetterling noch die Rebellion sind
dumm oder selbstmörderisch. Es ist nur so: Sie wissen, daß sie doch etwas
haben werden, wo sie landen können, weil es in dieser Richtung eine kleine Insel
gibt, die noch kein Satellit entdeckt hat.« Zum 10. Jahrestag der ungewöhnlichen Revolte sind zahlreiche
Bücher und Aufsätze über die neozapatistische Bewegung erschienen. Besondere
Erwähnung verdient als Primärquelle der von der Gruppe B. A. S. T. A.
herausgegebene »Kalender des Widerstandes«. Nach langem Schweigen hatte
Subcomandante Marcos Mitte vergangenen Jahres 13 Aufsätze veröffentlicht, in denen
er die Geschichte Mexikos »von unten« erzählt. Dabei gibt schon die Bezeichnung
der Kapitel einen Vorgeschmack auf den Marcos-typischen Stil: Die 13 »Stelen«
des Kalenders spielen auf den Kalender der Maya an, dessen System sie
wahrscheinlich von den Olmeken übernommen haben. In dem Kalender werden die Tage
durch eine Kombination von 13 Zahlen und 20 Namen bezeichnet. Nicht nur kulturell, sondern auch geographisch blickt Marcos
in dem Kalender über die Grenzen von Chiapas hinaus. Mit Hilfe verschiedener
literarischer Figuren erzählen die 13 Kapitel die Geschichte der kolonialen
Repression, des indigenen Widerstandes, des modernen Klassenkampfes. Schon im
Vorwort wird deutlich, daß sich die Zapatistas nach dem Scheitern der
Verfassungsreform, die der indigenen Bevölkerung Mexikos 2001 lange geforderte
Rechte zugestehen sollte, wieder zu Wort gemeldet haben: »Wenn die Damen und
Herren, die sich selber Denker nennen, mit unseren Augen gesehen hätten«,
schreibt Marcos über die damals vertane Chance der Regierung, »dann hätten sie
unser späteres Schweigen und unsere derzeitigen Worte verstanden. Aber nein.
Sie denken, daß sie denken. Und sie denken, daß wir ihnen etwas schulden. Aber
wir schulden ihnen gar nichts.« Eine pointierte Zusammenfassung der politischen und sozialwissenschaftlichen
Diskussion über die Neozapatisten findet sich im aktuellen Heft 253 der philosophischen
und sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Das Argument. Gelungen wird dabei in
den Beiträgen des argentinischen Politologen Atilio Boron und des in Mexiko
lehrenden Soziologen John Holloway ein zentraler Punkt der linken Diskussion
mit den und über die Neozapatisten erörtert: Muß die Linke die Macht erobern?
Was auf den ersten Blick als paradoxe Fragestellung daherkommt, entpuppt sich
schon nach wenigen Seiten als spannende Debatte zwischen zwei für den
deutschen Leser erfreulich politischen Akademikern. »Wenn wir (als Linke) am Politischen teilnehmen, ohne es
als Form gesellschaftlicher Aktivität in Frage zu stellen, dann haben wir
aktiv Teil am Prozeß der Trennung durch das Kapital, gegen das wir angeblich
kämpfen, ganz gleich, wie ›fortschrittlich‹ unsere Politiken sein mögen. Wenn
wir also den Staat als die ›vorherrschende Organisationsform der Unterdrücker‹
verstehen, dann ist das nicht ein Argument für einen über den Staat geführten
Kampf, sondern im Gegenteil ein Argument für die Erfindung anderer Formen des
Kampfes«. Holloways Argumentation stützt sich auf die Retrospektive: Wie kann
man heute noch die »alten« Formen des politischen Kampfes verteidigen, »wenn
so viele Revolutionen gescheitert sind, so viele die uns teuer waren,
geopfert wurden«? Notwendig sei vielmehr eine radikale Abkehr vom staatsillusionären
Radikalismus der Vergangenheit. Boron protestiert, und dieser Protest ist gerechtfertigt.
Fraglich aber ist, ob die Kritik der orthodoxen Linken (über Borons Aufsatz
»Der Urwald und die Polis« hinaus) nicht teilweise auf einem falschen Verständnis
der neozapatistischen Theorie beruht. Die jeweiligen politischen Strategien
können eben nicht mehr an den Luxemburg-Bernsteinschen Kategorien von Reform
oder Revolution gemessen werden, denn, wie Boron zu Recht schreibt: »Die
Geschichte lehrt, daß in Lateinamerika Revolutionen nötig sind, um Reformen
zu machen.« Die EZLN versucht, die Macht zu erobern, nicht aber die Regierung.
Für sie ist wichtig, was Antonio Gramsci in seinen »Gefängnisheften« als
»doppelte Fähigkeit der gegenhegemonialen Kräfte« fordert: die »intellektuelle
und moralische Führung« über große Teile der Gesellschaft. Erst nach Erreichen
dieses Teilziels könne die Eroberung der politischen Führung angegangen werden. Nicht nur die Debatte zwischen Boron und Holloway, deren
Beiträge löblicherweise starken Bezug aufeinander nehmen, zeigt ein zentrales
Problem auf. Auch in den Texten von Ana Esther Ceceña (Mexiko-Stadt) und Antonio
Ocaña (Frankfurt/Oder, Potsdam) kommt es durch die terminologischen Vorgaben
der EZLN immer wieder zu Unschärfen, die von den sachkundigen Übersetzern in Klammerkommentaren
nur teilweise ausgeglichen werden können. Am bekanntesten, weil beispielhaft,
ist die unkritische Verwendung des ursprünglich sozialwissenschaftlichen,
später radikal politisierten Terminus der »Zivilgesellschaft«, eines der »in
seiner derzeitigen Bedeutung (...) verworrensten Konzepte der Sozialwissenschaften«
(Boron). Hervorzuheben ist dabei der den Schwerpunkt abschließende Beitrag
von Wolfgang Fritz Haug zu »Zivilgesellschaft – Kämpfe im Zweideutigen«. Daß
die neozapatistischen Theoretiker mit der unkritischen Verwendung des Begriffes
mitten in die Falle rechten Revisionismus’ stolpern, wiegt in Anbetracht
ihres Anspruchs auf progressive und – im positiven Verständnis – postmoderne
Autonomie von politischen Dogmen besonders schwer. Ist heute nämlich von
»Zivilgesellschaft« die Rede, orientiert sich der Begriff mitnichten an der
»bürgerlichen Gesellschaft« des Marxismus, als viel mehr an dem politischen Kampfbegriff,
der von konterrevolutionären Kräften im ehemaligen Ostblock von den achtziger
Jahren an als Gegenkonzept zur sozialistischen Hegemonie geprägt wurde. So
schwebt über dem Neozapatismus auch zehn Jahre nach dem Aufstand in Chiapas
noch eine alte Gefahr revolutionärer Bewegungen in Lateinamerika: Die
unausgereiften politischen Kategorien könnten zu ernsthaften Irrtümern führen,
die in verhängnisvolle Niederlagen münden. Gruppe B.A.S.T.A. (Hg.): Kalender des Widerstandes. Verlag
Edition AV, Frankfurt am Main 2003, 220 Seiten, 13 Euro. Bezug: Gruppe
B.A.S.T.A., c/o Infoladen Bankrott, Dahlweg 64, 48153 Münster; E-Mail: gruppeBASTA@
gmx.de, Internet: www.gruppe-basta.de Das Argument, Nr. 253. Argument-Verlag, Hamburg 2003, 151
Seiten, 11 Euro. Bezug: Argument Verlag, Eppendorfer Weg 95, 20259 Hamburg;
Tel. 040/4018000, Fax: 040/40180020, E-Mail: verlag@argument.de. www.argument.de
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